Abendstimmung

Ich stehe am Fenster.
Der Tag neigt sich seinem Ende entgegen. 
Orangefarben ziehen die Wolken am Himmel entlang, dahinter die Sonne. Und wie seltsam, der sichelförmige Mond, als erstes Zeichen der kommenden Nacht. Das Treiben in den Straßen läßt nach. Weniger Autos und noch weniger Menschen. Und so heiß wie der Tag war, je älter die Nacht, je kühler der Asphalt. Kein Flimmern mehr. Aus der Ferne und den Bäumen am Straßenrand sind endlich die Vögel wieder zu hören. 
Es ist schön. Jetzt ist es schön. 
Ich öffne das Fenster, kühle Abendluft dringt herein. Eine Wohltat. Langsam ziehe ich die Gardine wieder zu. Sie weht ein wenig, so wie auch draußen das Lüftchen, das abendliche.Ich nehme auf der Couch Platz und sehe, wie er auf mich zukommt, den Wein auf den Tisch stellt, ihn eingießt in unsere Gläser. Er setzt sich auf meine Knie, meinen Schoß. Welch Ironie, sonst ist es genau andersherum!

Mit seinen Händen fährt er durch mein Haar. Er lächelt mich an, küßt mich, beißt mir sanft ins Ohr.
»Strippe für mich!«, meint er.
»Du spinnst!«, antworte ich prompt und lache kurz auf. Meint er das ernst? Ich weiß nicht.
Er muß auch lachen. War wohl doch nicht so ernst. Wir lachen beide.
Dann sage ich: »Andermal!«
Er freut sich schon darauf. Da fängt er an zu erzählen, was ich schon weiß, was ich noch nicht wußte. Unser Kennenlernen, unsere erste Nacht, unser erster gemeinsamer Orgasmus, unsere erste Wohnung, die ersten zwei Jahre, seine Träume... und und und...
Nichts läßt er aus.
Unser Leben noch einmal vor meinen Augen. Die Zukunft kann ich mir vorstellen. Irgendwie schon. Und er erzählt! 
Immer noch sitzt er auf meinen Knien. Langsam könnte er mal aufstehen! 
»Oh, steh bitte auf!«, stöhne ich.
»Entschuldige...«, sagt er und lächelt verlegen. Wir tauschen die Plätze.
»Hör nicht auf, erzähle weiter über dich, mich, uns...«, bitte ich ihn.
Wundervolle Minuten, wie immer in seinem Armen, zwischen seinen Beinen, auf und unter ihm. Unheimliche Hitze in uns.
Ihr Schrei verfliegt in der Nacht. Die Tränen des Glücks verschwinden. Wer weiß wohin?
Schweiß in unseren Kniekehlen, auf dem Rücken, ja überall. Jetzt durch meterhohen Schnee waten, bei klirrender Kälte einen Schneemann bauen, in kristallklarem kalten Wasser baden, bis daß das Blut gefriert!
Der Wein ist ausgetrunken, draußen ist es dunkel und wir liegen seit einer Stunde auf dem auf dem Boden. Er schaut mich an.
»Ich mach Fotos von dir!«, fällt ihm plötzlich ein.
»Ich bin nicht schön«
»Doch, für mich bist du schön!«
Er holt die Kamera, legt die Kassette mit dem Film ein und baut sich vor mir auf. Und ich liege noch immer auf dem Teppich.
»Meinst du ehrlich, daß das eine gute Idee wäre?« Ich bin mir nicht sicher.
»Ich kann stehen wo ich will, du, ich finde dich von allen Seiten wunderbar!«
Seine Augen funkeln. Da macht es klick!
»Schon passiert?«, frage ich erstaunt. 
»Ja«
»Wie wird es werden? Was hast du abgelichtet? Meinen Busen, meinen Bauch, meinen Kopf, meine Scham?«
»Dein Gesicht. Warte, gleich ist es soweit...«
Wir warten einen Moment. Dann kommt das Bild. Tatsache, nur mein Kopf ist zu sehen. Meine Haare, meine Augen, der Mund. Nur der Kopf, wie gesagt.
Es gefällt mir was ich sehe. Ich gefalle mir sonst nie.
Jetzt sehe ich mich mit seinen Augen. 
Wahnsinn! - Den Film verknipst er noch.

Foto GGL

Und später, wir liegen in unserem Bett, schaut er sich alle Bilder an. Der Reihe nach. Er schmunzelt. Seine eine Hand liegt auf meinem Bauch. Ab und zu mich streichelnd.»Sieh mal das Grübchen dort. Hast du schon gesehen? Da ist ein Leberfleck.«, wundert er. Wirklich. Da hinten ist ein Grübchen. Ich wußte davon. Ich sehe es trotzdem zum ersten Mal. Und den Leberfleck sehe ich nur, wenn ich mich verrenke. Schön, denke ich. 
»Sehr schön!«, sagt er.

© by V.S. 1999