Das Mädchen und das Moor

Ihr Weg führte sie mitten durch ein Moor hindurch, schwarz wie die Nacht, voll mit den unheimlichsten Lauten, die je an ihr Ohr gedrungen waren - das Glucksen des Moores, die Schreie der unsichtbaren wilden Tiere, das Heulen des Windes und das Knacken im morschen Geäst der kahlen Bäume. 
Und doch umgab P. eine Stille, bei der sich ihr Herz angstvoll verkrampfte. 
Aber es gab nur diesen einen Weg den sie gehen konnte. 
So tastete sie sich vorsichtig Schritt für Schritt, immer mit den Füßen Halt auf Steinen oder Grashügeln suchend, in das Moor hinein. Gerade war sie einige Schritte vorangekommen, da hielt sie inne, denn sie hörte von weit her jemanden rufen, aber sie verstand nicht was. 
Nach wenigen Metern jedoch sie mußte feststellen, daß kaum noch Steine oder Grashügel zu sehen waren, auf denen sie hätte entlang gehen können. Verzweifelt blickte sie sich um.
Sie blieb stehen, dachte ans Umkehren, doch als sie sich umdrehte, da fand sie den Weg zurück nicht mehr. Sie wußte nicht mehr woher sie kam, nur noch wohin sie wollte. Und plötzlich begann der Boden unter ihren Füßen langsam zu versinken. Sie wollte schreien »Hilfe!« aber ihr Mund öffnete sich, ohne einen Laut von sich zu geben. Bis zu den Knöcheln war sie bereits versunken, als sie neben sich einen alten Baum bemerkte, mit einer weiten Krone und tief hängenden Ästen, ähnlich einer Trauerweide.

Sie reckte sich, einen der Äste zu erhaschen, um dem Moor zu entkommen, dessen schwarze Masse schon ihre Knie erreichte hatte. Sie hörte wieder die Stimme. Was reif sie nur?
Mit einem Mal erschien es ihr, als würde ein dünner Ast, genau über ihrem Kopf ihr entgegenwachsen. Und als P. ihre Hand nach dem Ast ausstreckte, da schlang sich dieser um das Gelenk ihrer Hand, fest und sicher. P. hob ihren anderen Arm der Krone entgegen und ein weiterer Ast bahnte sich den Weg zu ihr hinunter. 
Zwei kraftvolle Schlingen zogen sie empor, entrissen dem Moor das Mädchen. Da hörte sie abermals die Stimme rufen. Ihren Namen?
Dicht unter der Krone des Baumes nahmen sich weitere Äste ihrer an. Sie hielten sie nun an Händen und Füßen fest, trugen sie liegend wie eine Schlafende, durch das Geäst empor.
P. fühlte sich wieder sicher und geborgen, war müde und wollte die Augen schließen, als die Stimme rief...»Wach auf!«...
Der Wind spielte mit ihren Haaren, streichelte sie sanft.

»Wach auf!«

© by V.S. 1998