Im Irgendwo oder DREI

Ich sehe den Wagen. Er kommt mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf mich zu und ich höre das Dröhnen des Motors in meinen Ohren.
Die Haut schürfe ich mir auf, als ich die kleine Steintreppe hinter dem Hause runterfalle; weinend laufe ich zu Mutti. An den Wochenenden gehen wir spazieren. Einen Sonntagnachmittag darf ich aber im Bett verbringen. Mein Kopf hängt zur Seite und meine Lippen färben sich blau und Papi fängt mich auf. Er bringt mich ins Bett. Kinder! Endlich 18. Mein erster Freund. Der erste Mann in meinem Leben, der mit mir schlafen will und mich mit einer betrügt, die aussieht wie ein Pferd. Jungs, Männer. Solche, die es werden wollen. Neckische Streiche, wildes Leben, viel Musik. Jahre! Ich spüre das kleine Leben in mir. Es wächst und ich versuche mir vorzustellen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Man schneidet mich auf und zieht das kleine Wesen aus mir heraus. Ich kann es nicht sehen, denn ich schlafe ganz fest, weiß nicht wie es ist, ein Kind zu gebären. Gerade bin ich zweimal dem Tod entwischt. Jahre, viele Jahre. Mein Leben ändert sich. Erst kaum merklich, dann rasant. Ich gehe meinen eigenen Weg. An meiner Seite mein Sohn.

Irgendwo

Noch immer fliegen Blechteile durch die Luft, als aufstehe. Kleine Scherben fallen aus meinen Haaren und von meinen Sachen auf den Boden herab auf die Frau unter mir. Und durch meine Bluse haben sich die Blutstropfen hindurch gefressen.
Ich wälze mich durch die Massen. Ach, ich liebe die Farbe schwarz, die Summe aller kolorierten Bilder in meinem Kopf. Ich tauche ein in den Strom der Menschen, der mich aufnimmt und mitzieht, bis ich feststelle, dass ich alles andere als in Schwarz gekleidet bin.
Einer von denen, die vor mir gehen sieht aus wie Patrick Swayze.
Ob er mit mir tanzen wird?
"Du warst doch sonst kein Kind von Traurigkeit?", meint eine Dame über mir.
"Träume ich?", frage ich sie.
"Weiß ich auch nicht..."
Alle um mich herum unterhalten sich ganz angeregt. Ich kann aber nichts hören, weil es viel zu leise ist.
"Wie alt bist Du geworden?", werde ich gefragt. Ein junger Mann neben Patrick dreht sich nach mir um.
"Ich werde bald 36!"
"Zeig her!"
Ich halte ihm meine Geldbörse vor die Nase. Er beginnt zu zählen. Doch er lässt ein Jahr aus, zählt eines doppelt, überspringt dann drei und so weiter.
"Tatsache 35...", stimmt er mir zu.
Ich bin verwirrt und zähle nach. 35!
Geworden? Ich [i]bin[/i] doch, warum also [i]geworden[/i]?
Ich blicke irgendwohin und sehe ein Licht, in dem ein Strom endet, der aus vielen kleinen Pünktchen besteht.
Jeder Punkt ist ein Mensch und ich bin inmitten dieser Masse.
Es ist wie in einem dieser Filme, wenn ein menschliches Wesen nach dem Leben auf dem Weg in den Tod vor einem gleißenden Licht schwebt. Ich schaue mich um, dann wieder ins Licht.
"Ich bin noch nicht fertig!" schreie ich auf.
"Ich bin noch nicht soweit!"
Ich versuche zu denken, richtig zu denken, und Angst beschleicht mich, weil ich nicht das machen kann, was ich möchte, weil ich wieder Angst habe, dass am Sonnabend ganz in der Früh mein Wecker klingeln wird und ich verschlafe, obwohl ich nicht aufstehen muss, weil ich Angst habe, ein Weltkrieg bricht aus und der Tisch unter dem ich mich verkrieche, mal wieder nichts abhalten kann, dass ich von finsteren Gestalten verfolgt werde, die ich nicht kenne und ich mich schon wieder nicht vom Fleck wegbewegen kann, dass die Kellertreppe viel zu laut knarrt und mich an ihrem Ende die Finsternis verschlingen wird, dass jemand an meiner Welt rüttelt, so wie jetzt und ich nichts sagen kann.

Drei

Eine Katze hat sieben Leben.
Sagt man!
Ich hingegen muss mit einem auskommen.
Ein kleines Wunder bin ich, wie all die anderen Menschen, die bisher ein Körnchen in diesem Universum sein konnten. Was für ein winziges Körnchen!
Ich habe immer Angst vor dem Augenblick gehabt, wenn alles vorbei ist oder ich vor mich hinvegetiere, weil mein Gehirn nur noch aufnehmen aber nichts mehr geben kann, wenn mein Körper nur noch eine Hülle, Heimat für das Einzigartige gewesen ist.
Kinderlachen, Hände, die morgens meine Haare kämmen, Licht, Schatten, Farben, Regen und Nebel, Küsse, Begehren, Liebe, Triebe und Heiterkeit und dann nichts mehr.
Einfach nichts wird sein.
Aber, dass jemand an meiner Welt rüttelt, so wie jetzt und ich noch immer nichts sagen kann
Warum habe ich nie den Mann getroffen, der wie Patrick tanzen und küssen kann?
Das Licht ist zum Greifen nah.
Aber ich bin noch nicht soweit.
Und ich kehre um, weil ich dort sicher nicht das Glück, den Mann für mich oder sonst etwas finden werde.
Weil ich noch nicht fertig bin, nicht bereit für das bin, was nicht kommt, weil jemand an meiner Welt rüttelt und ich Stimmen höre, die meinen Namen rufen, weil da jemand ist, der mich wiedersehen möchte, weil noch viele Gedanken ausgesprochen werden wollen, viele Küsse auf mich warten und meine Haut berühren möchten, die Sonne noch eine Ewigkeit scheinen wird, weil ich den Duft nach einem Regen berauschend finde, weil ich lieben und schwitzen will und leben will!

© by V.S. 2000, 01.05.2008