Wegelagerer

Stumm und fad rollt die Landschaft draußen an mir vorbei. Sie scheint wie ein Film abzulaufen, der ohne Ton und mit wenig Farbe an den Wagenscheiben aufflimmert, der mich mehr als geahnt traurig stimmt.
Nach dem großen Sturm im Dezember, am zweiten Weihnachtsfeiertag, liegen unzählige Bäume ausgerissen in den Wäldern. Wie eine Walze tobte der Sturm durch das Land und es werden Jahrzehnte vergehen, bis von diesem Streifen der Verwüstung nichts mehr zu sehen sein wird. Und im Sommer wird sich der Borkenkäfer über den Rest hermachen.

Nach der großen Kurve parke ich am Straßenrand. Ein paar Bäume stehen noch, dahinter ein Bild, welches mir nicht aus dem Kopf gehen will.
Vielleicht ist aber dieser Anblick einer, der meine letzten Erlebnisse zu überschatten vermag. Ach, ich weiß auch nicht.
Im Gegensatz zu dem was ich sehe, fühle ich mich zwar nicht ausgerissen, eher angesägt, ich bin enttäuscht und traurig.
Unter meinen Schuhen knacken die morschen und frischen Äste am Boden. Eigentlich dürfte ich nicht den Wald betreten, schließlich wurde im Radio davor gewarnt, da viele Äste lose in den Baumkronen hängen, viele Bäume nur noch ein entsprechendes Lüftchen bräuchten, um endgültig umzufallen.
Aber wer macht schon, was er müßte, wer tut nicht auch einmal das, was er lieber lassen sollte? 
Nach einigen Metern stehe ich im Freien, dort wo Riesen einst stolz in den Himmel ragten. Hätten sie reden können, sie würden Geschichten erzählen, die nicht mal meine Urgroßeltern, die ich nie gesehen habe, kennen würden.
Doch die Riesen liegen am Boden und besonders heute nach dem Januarregen riecht es nach frischer Erde.
Ich schlage mein Tagebuch auf. Die letzten Seiten sind etwas verklebt, leicht gewellt. Das Werk meiner Tränen der vergangenen Wochen.
Andere sehen in mir immer das lustige Wesen, den fröhlichen Menschen, haben mich wohl auch nie weinend erlebt. Ich habe ihnen selten erzählt, wie es in mir aussieht, wie ich fühle und spüre. Kann es auch nicht. Wenn sie wüßten, was ich alles erlebt habe, wie glücklich ich gewesen war und Sekunden später in ein tiefes Loch fiel. Wenn sie wüßten, was ich alles weiß. So sind die letzten Wochen nicht gerade die schönsten gewesen.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon stehe, aber langsam wird es dunkel. Die Dämmerung kündigt die Nacht an und es wird später kaum noch etwas von dem Chaos hier zu sehen sein, wenn sich das Licht dem Wald entzogen hat.
Wie ich das Tagebuch wieder einpacke, sehe ich am Boden einen dünnen Halm, ein Stämmchen. Ich bücke mich und erkenne ein Kind des Waldes, nur ein paar Zentimeter groß. Dieses Bäumchen, erst wenige Monate alt, wird, wenn es wieder wärmer wird und über die Jahre hinweg hier in die Höhe steigen. Eine Träne läuft über mein Gesicht. Dem kleinen Ding, so zart es ist, konnte der Sturm nichts anhaben. Wenn ich in ein paar Jahren wieder herkomme, wird es gewachsen sein und mir an heißen Tagen Schatten spenden können. Ja, es ist die Hoffnung, daß alles wieder - irgendwann - gut wird. Ich denke an mich und ein Lächeln entrinnt mir: Was kann schöner sein, als die Hoffnung, die uns mit Glück erfüllt?

© by V.S. 10. Januar 2001