Guten Morgen, Meister!

Viele Wochen lang sehe ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit das Werbeplakat eines Bühnenstückes in Stuttgart. Neben dem Text das Bild einer Frau, die nackt auf dem Rücken liegt, deren Arme und Beine vor sich angezogen zusammengebunden sind. Jeden Morgen schmunzle ich beim Vorbeigehen. Jeden Morgen mutiert der Titel in meinem Kopf zu "Küss mich Meister!"
Kaum gedacht, schon beginne ich mich zu fragen, wie frech oder auch verwegen es sei, den Meister darum zu bitten, geküsst zu werden.
Sie gibt sich ihrem Meister hin, nur ihm alleine, macht ihm Freude, ist da, wenn er ruft und dennoch gibt es so manchen Augenblick der Einsamkeit. Ist er wirklich verwegen, ihr Wunsch nach einem Zeichen der Zuneigung, der Liebe und Hingabe? Ein süßes Opfer für das schöne gefesselte Wesen? Wer sollte sie denn sonst küssen, wenn nicht er, der Meister? Ihr Meister.
Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, was ein Kuss ist, ein schöner, wie er schmeckt, sich anfühlt, wie er sich langsam in mir ausbreitet, wie mein ganzer Körper ihn zu spüren beginnt, schmecke die Lippen an meinen, die feuchte Zunge, stoße gegen einen Zahn, lächle und versinke am Ende in etwas unbeschreiblich Schönem. Verzaubert und hingerissen, die Erde und ich beben. Ein Kuss nur!
Küss mich Meister!

Brauchen wir immer den Akt in Vollendung? Ein Moment, ein kurzer Augenblick, nur ein Wort oder Schweigen - Manchmal sind es die kleinen, so einfachen Dinge, die uns glücklich machen, die es schaffen, uns erbeben zu lassen, uns mit einer wohligen Wärme umgeben, mit einer schauderhaften Kälte bedecken, mit Macht uns ergreifen und verzaubern.

© by V.S. 04. Juli 2002